Kultur:
Kultus- oder Kulturjuden?
Die Mitgliederbefragung der Jüdischen
Gemeinde zu Berlin
Von Judith Kessler
Im
vorigen Teil der Umfrage hatten wir
festgestellt, dass – selbst regelmäßiger – Synagogenbesuch nicht zwingend an
eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Religion gekoppelt ist. Dies
legen auch Details aus dem Teil der Umfrage nahe, der sich mit den – im
weitesten Sinne – kulturellen Gewohnheiten und Vorlieben der Berliner Juden
befasst. Hier wurde zum Beispiel danach gefragt, wovon die Mitglieder bei
Gemeindeveranstaltungen gern mehr hätten. Während Themen, die mit
Gesellschaftspolitik, deutschem Judentum oder Israel zu tun haben, jeweils
von 27–30 Prozent der Befragten angegeben wurden, waren es bei
Religionsthemen 17 Prozent.
Bei den Veranstaltungen, die persönlich
am meisten interessieren, taucht Religiöses zwar noch mit 26 Prozent auf,
aber alle anderen Optionen wurden häufiger gewählt, bis auf
Gedenkveranstaltungen, und das absolute Schlusslicht
"Repräsentantenversammlung" (4 Prozent). Die meisten haben mehrere
angekreuzt. Absoluter Spitzenreiter sind "Konzerte" – sie wurden von 50
Prozent aller angegeben; den zweiten Rang belegen "Vorträge" mit 36 Prozent.
Dann folgen Diskussionen, Feiern, Theater, Kurse, Exkursionen (letztere fast
ausschließlich von Zuwanderern).
Diese Präferenzen decken sich mit
anderen Angaben. Befragt nach der letzten Gemeindeveranstaltung, an der
man/frau teilgenommen hat, konnten sich 32 Prozent der Befragten nicht mehr
daran erinnern. Die anderen wiederum nannten am häufigsten den Gemeindeseder
und den Purimball. Auch der WIZO-Basar, Chanukkaball und die Jüdischen
Kulturtage wurden oft erwähnt. Ingesamt fanden sich Veranstaltungen von 37
verschiedenen jüdischen Anbietern, von "Kriegsveteranen" über "Massoret" und
"Meshulash" bis zum "Tanzzirkel mit Mazal Weber".
Beinahe ebenso selten wie Schiurim oder
ähnliches wurde die Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung angeführt, am
ehesten noch der Jom Haschoa mit der Namenslesung. "Theoretisch"
interessieren sich 24 Prozent für Gedenkveranstaltungen, bei über
60-Jährigen 30, bei unter 30-Jährigen 17 Prozent (zum Vergleich: "Feiern"
haben 59 Prozent angekreuzt). Fraglich ist, ob andere Werbung oder
Gestaltung mehr junges Publikum bringen würde. 30 Prozent aller Befragten
wünschen sich mehr "Israel-bezogene Themen", aber zum Jom Haazmaut gehen
dennoch wenige. Hier ist es legitim zu fragen, was an Aufmachung oder
Inhalten nicht stimmt, wenn trotz vorhandenem Interesse nur wenige kommen.
Immerhin finden 30 Prozent der Befragten
die Qualität der Veranstaltungen verbesserungsbedürftig. Was bedeutet das?
Ein wenig Aufschluss geben die Kommentare am Ende des Fragebogens: Die
meisten Kritiker sind sich einig, dass es vielen Angeboten von Kulturtagen
bis Kulturabteilung an "Niveau" und "progressivem Denken" fehlt (allein die
Volkshochschule und der Jüdische Kulturverein werden lobend erwähnt). Es
wird "Meinungsvielfalt" vermisst, die Öffnung für "andere Kulturen und
Religionen", bessere "Beziehungen zu Christen und Muslimen". Dem
Zuwandererangebot, z.B. im Mifgasch, wird "Provinzialität" bescheinigt.
Großveranstaltungen wie der Jom Haazmaut seien "unattraktiv" und
"langweilig", Gedenkfeiern "eingefahren traditionell". Hier wird nach "neuen
Ideen" und "qualifizierten Organisatoren" verlangt.
Auch wenn 14 Prozent der Befragten,
meist Ältere, (noch) "mehr russischsprachige Veranstaltungen" wollen (diese
Antwortmöglichkeit war gegeben), sind es in den Kommentaren immer wieder die
Nichtrussischsprachigen (Israelis, Polen, Deutsche), die das Gefühl äußern,
ihre Gruppen oder Belange kommen zu kurz, inhaltlich wie sprachlich. Andere
haben keine inhaltlichen Wünsche, sondern wollen niedrigere Eintrittspreise,
kinder- und seniorengerechtere Zeiten, bessere Werbung, rechtzeitige
Bekanntgabe von Demonstrations- und Veranstaltungsterminen.
Zu den "technischen" Parametern gehört
der Veranstaltungsort: Für 55 Prozent liegt das Gemeindehaus günstiger als
die Oranienburger Straße. Letztere ist nur für 9 Prozent besser zu
erreichen, 28 Pro-
zent können sich mit beiden Plätzen gut
arrangieren. Die Vorliebe für die Fasanenstraße ist plausibel – über die
Hälfte aller Mitglieder wohnt in der "City West". In Mitte und Prenzlauer
Berg sind es weniger als 4 Prozent. Das "blühende jüdische Leben im
Scheunenviertel", wie es die Reiseführer verheißen, wird also noch eine
Weile mit der Topographie kämpfen müssen. Moniert wird an der Oranienburger
Straße auch der erschwerte Zu- und Abgang durch Absperrungen und blockierte
Bürgersteige und der Mangel an Parkplätzen.
Trotz günstiger Lage des Gemeindehauses
wird das dortige "Internet-Café" kaum frequentiert: 81 Prozent nutzen es
"nie", 1 Prozent "regelmäßig", 6 Prozent "selten". Viele Mitglieder haben
Internet zu Hause, zudem herrscht im Internet-Cafe, so ein Kommentar, eine
"… Bahnhofsatmosphäre, sehr ungemütlich. Cafe mit internationaler jüdischer
Presse und Internet wären ideal und regelmäßige Pianostunde". Die Bibliothek
wird in der Bewertung allgemein gelobt. Sie hat einen guten Ruf als
Fachbibliothek, 23 Prozent nutzen sie regelmäßig, 35 Prozent selten. Zu den
Stammkunden gehören mehr Frauen als Männer und mehr Zugewanderte als in
Deutschland geborene. Ein Grund mag sein, dass die Bibliothek aktuelle
israelische und russische Publikationen führt. Fehlt – siehe oben – nur die
Caféhaus-Atmosphäre für die Zeitungslektüre.
Ähnlich wie im religiösen Bereich gibt
es auf dem Kultursektor grob gerechnet ein "aktives Drittel" und zwei
"passive Drittel". 33 Prozent besuchen regelmäßig , 59 Prozent "selten", 4
Prozent "nie" Veranstaltungen der Gemeinde oder anderer jüdischer
Einrichtungen. Während sich die "Kulturmuffel" gleichmäßig auf alle
Altersgruppen verteilen, finden wir jene, die oft jüdische Kulturangebote
nutzen, zuerst bei Älteren und Zugewanderten. Die hierzulande geborenen sind
wiederum die größeren "Vereinsmeier". 40 (bei Zugewanderten 34) Prozent sind
Mitglied in einem jüdischen Verein oder Klub. Allerdings suchen weniger als
15 Prozent aller ihren Klub regelmäßig auf. Die Logen, WIZO, Makkabi, Achva
und der Studentenverband wurden hier am häufigsten genannt. Als Veranstalter
waren dies die Jüdische Volkshochschule und der Jüdische Kulturverein,
gefolgt von den (eher russischsprachigen) Einrichtungen Treff Hatikwa und
Projekt Impuls.
Schauen wir uns nochmal das potentielle
Publikum der beiden beliebtesten Veranstaltungstypen – Konzerte und Vorträge
– an: Für Konzerte interessieren sich erheblich mehr Frauen als Männer und
erheblich mehr in der Sowjetunion (63 Prozent) als in Deutschland geborene
(40 Prozent). Letztere gehen lieber zu Vorträgen, genau gesagt 45 Prozent,
gegenüber 21 Prozent bei den Ex-Sowjetbürgern. Veranstaltungsorganisatoren
müssen bei solch unterschiedlichen Präferenzen schon einen ziemlichen Spagat
vollführen, wenn sie Einheimische und Zuwanderer unter einen Hut bekommen
oder allgemeine Zufriedenheit herstellen wollen.
So wie hier "Entspannung" und
"Kopfarbeit" zwei Pole zu bilden scheinen, und das Gemeindevolk u.U. auch
spalten, steht die Forderung nach Tradition gegen die nach Modernität. Ein
letztes Beispiel: Die Teilnehmer konnten bei der Frage, wovon sie gern mehr
hätten unter anderem zwischen "traditionell jüdischem (z.B. Klezmer)" und
"klezmerfreien Zonen" wählen. 23 Prozent bestanden auf mehr Tradition.12
Prozent wollten "klezmerfreie Zonen". "Fans und Gegner" sind gleichmäßig auf
beide Geschlechter verteilt. Die "Folkloristen" sind im Durchschnitt jedoch
sehr viel älter als die andere Gruppe, wurden zu 60 Prozent in der
Sowjetunion (25 Prozent in Deutschland) geboren und können sich seltener
einer religiösen Richtung zuordnen. Tun sie es doch, neigen sie eher zur
Orthodoxie, während es unter den "Gegnern" nur einen Orthodoxen, aber viele
Atheisten und "Reformer" gab. Zuletzt bleiben die "Traditionalisten" in der
Freizeit eher unter sich, während die "Klezmer-Skeptiker" mehr Kontakte zu
ihrer nichtjüdischen Umgebung pflegen (eigentlich ein Paradox, weil ja
gerade ihre deutsch-nichtjüdische Umgebung auf Klezmer als vermeintlich
bestimmendem Moment jüdischer Kultur "steht").
Insgesamt ist es bei den gegebenen
Quantitäten in mancher Hinsicht vielleicht angemessener von Jüdischer
"Kultur- oder Interessengemeinde" als von "Kultus- oder "Religionsgemeinde"
zu sprechen und zu honorieren, dass die Mitglieder zwei (oder mehr)
verschiedenen Welten angehören.
Für weitere Details der Studie
kontaktieren Sie bitte:
Judith Kessler
M.A.
jb@jg-berlin.org
hagalil.com
08-05-03
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