Der Fotograf Boris Carmi (1914 – 2002)
verfolgte mit seiner Kamera über 60 Jahre lang Leben und Gesellschaft Israels.
Anlässlich seines 90. Geburtstages zeigt die Berliner "Akademie der Künste"
erstmals das Werk des Presse- und Dokumentarfotografen als Einzelausstellung
außerhalb seiner Heimat. Vorgestellt werden Fotografien aus der turbulenten
Phase der Staatsgründung 1948, des beginnenden Krieges mit den Arabern, der
Massen-Einwanderung aus aller Welt und der Wirtschaftskrise, aber auch Porträts
von Künstlern und Politikern. Seine Bilder berichten von den enormen
Herausforderungen, denen das junge Land ausgesetzt war.
Die Fotografien von Boris Carmi dokumentieren
jedoch nicht nur, sie erzählen auch Geschichten, die sich dem Betrachter nicht
auf den ersten Blick erschließen. Sie haben eine nicht sofort zu entschlüsselnde
künstlerische Bedeutung. Um welchen universellen Sinn es dabei geht, wird dem
Betrachter nicht gleich bewusst. Dass hier jedoch ein Subtext verborgen sein
muss, spürt er unmittelbar.
Alexandra Nocke jedenfalls,
Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin der Ausstellung der Fotografien Carmis,
hat die Ausstrahlung der Bilder sofort erfasst. Als sie sich zur Vorbereitung
ihrer Doktorarbeit über israelische Identitätskonstruktionen ein Jahr in Tel
Aviv aufhielt und dabei den Fotografen und seine Bilder kennen lernte, "sprang
mir" – sagt sie im Interview – "das erzählerische Potential der Fotografien
unmittelbar ins Auge."
Mit beeindruckender Energie hat sie seit diesen
Tagen den Plan verfolgt, eine Auswahl der Bilder in einer Ausstellung zu
präsentieren. Vornehmlich auf sich selbst und ihre Faszination von den Bildern
gestellt, gelang es ihr schließlich ausreichend Sponsoren und Unterstützer zu
finden. Letztlich übernahmen sogar der scheidende Bundespräsident der
Bundesrepublik, Johannes Rau, und der israelische Staatspräsidenten Moshe Katzaw
die Schirmherrschaft für die am 14. Mai 2004 – 56 Jahre nach der Proklamation
des israelischen Staates – eröffneten Ausstellung in Berlin.
Sehr schnell erfasst hat wohl auch Matthias
Flügge, Vizepräsident der Akademie, die Kraft der Bilder. Als Alexandra Nocke
vor mehr als zwei Jahren mit einer Mappe der Fotografien Carmis bei ihm
auftauchte, habe er der Vorbereitung einer Ausstellung sofort zugestimmt. Die
Fotos von Carmi seien der Kunstkategorie "subjektive Autorenfotografie"
zuzurechnen, erläutert er in seiner Eröffnungsrede.
Allerdings macht er auch eine Bemerkung, die den
politischen Kontext der Ausstellung in der Bundesrepublik – und vielleicht
Europa – sehr scharf sichtbar werden lässt. Die Akademie wolle mit der
Ausstellung keinesfalls "einseitig Partei im Konflikt im Nahen Osten ergreifen",
sagt Flügge. Das Publikum der Eröffnungsfeier protestiert nicht. Für einen
kurzen Moment jedoch wird es sehr still. Ob Flügge eine solche Bemerkung auch im
Kontext von Fotografien eines russischen oder – nur als Beispiel – norwegischen
Künstlers gemacht hätte?
Sehr schnell hat die Bedeutung der Bilder Carmis
sein Freund Shlomo Arad erfasst, der bis vor einiger Zeit noch als Fotograf für
die Zeitschrift Newsweek arbeitete und der eigens zur Eröffnung der Ausstellung
nach Berlin gereist ist. Boris Carmi, der 2002 gestorben ist, hätte sich sicher
sehr über diese erste zusammenhängende Ausstellung seiner Bilder außerhalb
Israels gefreut, erläutert er im Gespräch. Bereits 1988 habe man zusammen
begonnen, die besten Fotos aus den mehr als 20.000 Negativen zusammen zu tragen.
Es sei ganz eindeutig, dass viele der wirklich
bedeutenden Fotos von Carmi vor allem von Entwurzelung, Flucht und einem oft
konfliktreichen Neuanfang erzählten. Einsamkeit, Hoffnung, Desorientierung,
Verzweiflung und oft auch neuer Lebensmut, vor allem jedoch der Blick auf jedes
einzelne Gesicht seien das eigentliche Thema von Carmis Bildern. "Du hast Dich
der Aufgabe gewidmet, die Geschichten und die Gefühle der orientalischen und
europäischen Flüchtlinge und Vertriebenen zu erzählen, die nach Israel kamen",
habe er ihm einmal gesagt. "Und Du hast es gut gemacht", habe er hinzugefügt.
Carmi jedoch habe abgewehrt. Er habe lediglich versucht, die Berichte der
Korrespondenten, mit denen er als Fotograf verschiedener Zeitungen in Israel,
aber auch in Europa und Afrika unterwegs war, durch einen anderen Gesichtspunkt
zu ergänzen, habe er bescheiden – zu bescheiden wie Shlomo Arad meint -
erwidert.
Arad kann seine Bewertung der Bilder von Boris
Carmi besonders gut an einem der wohl berühmtesten Fotos von Boris Carmi aus dem
Jahr 1948 erläutern. Mitten in einer Gruppe von Soldaten lehnt sich eine junge,
schöne Frau an einen Baum. Sie trägt kurze Khaki-Hosen, eine Pistole im Halfter
und eine Kaffiyeh auf dem Kopf. Zu ihren Füßen sitzt ein junger Soldat. Blickt
man genauer auf seine linke Hand, entdeckt man eine eingebrannte Nummer und
weiß, dass er aus einem Konzentrationslager gekommen ist. "Jahrzehnte lang galt
dieses Bild als ein Symbol der israelischen Identität schlechthin", erzählt Arad
dem Reporter der "Netzeitung" vor der Eröffnung der Ausstellung in Berlin. "Man
hat das Bild aber immer so geschnitten, dass man die Nummer auf der Hand nicht
sehen konnte." Erst 1996 habe er selbst das Foto für Carmi gedruckt und dabei
die Tätowierung entdeckt.
Wer die Berliner Ausstellung, etwa 100 Fotos aus
dem Gesamtwerk Carmis, besucht, oder den gleichzeitig erschienenen Fotoband
ansieht, wird schnell feststellen, wie präzise Shlomo Arad die Bedeutung dieser
Bilder zu beschreiben vermag. Der Fotograf und Freund drückt es ganz ähnlich aus
wie György Konrad, von 1997 bis 2003 Präsident der Berlin-Brandenburgischen
Akademie der Künste, in seiner Eröffnungsrede. Sie bildete den eigentlichen
Höhepunkt der Ausstellungseröffnung.
György Konrád übersetzte die Bilder Boris Carmis in kleine
Geschichten: "Augen, vieles wissende, sprechende Augen, sehen hinter dem, was
sie sehen, auch noch etwas anderes. Sie blicken in die Vergangenheit, dort
verharren sie und sehnen sich danach zurück, was nicht mehr vorhanden ist, nach
einem Ort, der anderswo ist. Aber wohin sollten sie von hier aus gehen? Es kommt
ein Lehrer oder ein Wissenschaftler mit seiner Familie daher: dunkelgrauer
Anzug, Krawatte, heller Hut, um ihn herum Wüste, staubige Wege, er sieht nach
vorn. Ein Einwanderer mit markanten Gesichtszügen in seinem neuen Zuhause schaut
vor sich hin; im Hintergrund schwirrt es geschäftig umher. Die aus Afrika
kommende junge Frau, die den Säugling an sich drückt, hat vielleicht niemanden
und nichts auf der Welt als dieses Baby.
Der Fremdling mit Krawatte und Stoppelbart blickt
in die öde Welt. Realistische Blicke - nun ja, so ist das eben - sie geben sich
Rechenschaft über die neue Wirklichkeit. Nur dieses neue
Zusammengehörigkeitsgefühl gibt es, darin müssen diese Menschen ihr Zuhause
finden. Doch das kleine Land ist auch ein buntes Abenteuer; so viele
verschiedenartige Menschen, komisch, dass das Judentum so vielfarbig ist wie die
Menschheit selbst.
Die Frau aus dem Jemen hockt vor dem verputzten
Backofen, versinkt, während sie in alten und schäbigen Töpfen kocht, in ihrer
eigenen Welt. Viel Resignation oder einfacher ausgedrückt Traurigkeit in den
Augen. Denn auch in den von Schönheit leuchtenden Augen lauert die Kenntnis der
Dunkelheit. Eine raue Gegend, primitive Gegenstände, die Menschen sind nicht
verwöhnt, vom Lastwagen laden sie ihre ärmlichen Habseligkeiten ab, auf der
Seite gaffen die Kinder. Dann stellt sich die Idylle ein; eine orientalische
Familie sitzt zusammen auf der Steinterrasse. Das entspricht ihrer Eleganz in
jedem anderen nahöstlichen Land, und auch in die Kamera würden sie so und nicht
anders schauen, während sie auf das leise Klicken warten."
Dr. Martin Jander, geb. 21.1.1955, Historiker,
studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften an der Freien
Universität Berlin. Heute arbeitet er als freier Autor, forscht, lehrt und
publiziert zu den Themen Politische Theorien, Nationalsozialismus, Shoah und
Deutsche Nachkriegsgeschichte. Darüber hinaus ist er Mitarbeiter der Redaktion
der Zeitschrift „Horch und Guck“ und betreibt in Berlin die Stadtführungsagentur
"Unwrapping
History".
György Konrád:
Eröffnungsrede zur Fotoausstellung Boris Carmi