Retter im Schloss Bellevue:
Ein Hauch Familienfeier
Bundespräsident Rau lud in der Nazizeit versteckte Juden und
ihre Retter zum Gespräch und Empfang in seinen Amtssitz...
PHILIPP GESSLER
Ein magischer Abend. Ist es der letzte Wintertag oder schon der erste
Frühlingstag? Rot geht die Sonne hinterm Kanzleramt unter, der Himmel ist
schwarz und klar. Schloss Bellevue strahlt, die repräsentativen Säle des
Bundespräsidenten Johannes Rau leuchten. Etwas Außergewöhnliches, lange
Versäumtes soll an diesem Donnerstagabend stattfinden: Ein Gespräch mit und über
die versteckten Juden der Nazizeit. Eine Ehrung der Nichtjuden, die ihnen
halfen, sie vor dem sicheren Tod bewahrten.
Nach neuesten Schätzungen tauchten rund 10.000 bis 15.000 Juden zwischen 1941
und dem Kriegsende in Deutschland unter. Etwa 3.500 erlebten noch das Ende der
Verfolgung. Weil sie Glück hatten. Aber auch weil es nichtjüdische Retter gab,
die zum Teil unter eigener Lebensgefahr den Versteckten und Bedrohten
beistanden. Inge Deutschkron gehört zu den Geretteten. Sie überlebte in der
Bürstenbinderei Otto Weidts an der Rosenthaler Straße in Mitte. Oder Charlotte
Knobloch, die Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland: Sie
entging als Kind den Nazihäschern auf einem Bauernhof, weil deren Besitzerin sie
als uneheliches Kind ausgab - und das im konservativ-katholischen Bayern der
Vierzigerjahre!
Auf einem kleinen Podium erzählt Charlotte Knobloch ein wenig von dieser Zeit:
Freunde habe sie in diesen Jahren nicht gehabt, sagt die resolute Dame. Sie habe
eben "mit Tieren geredet - jedes war ein Freund". Sie versucht zu schildern, wie
es war, als sie ihren Vater nach Kriegsende endlich wiedersah. Und kann es
nicht. Verschämt drückt sie sich Tränen aus den Augenwinkeln. Der Journalistin
und Schriftstellerin Inge Deutschkron fällt das Erzählen leichter. Ihr hilft die
Berliner Schnauze. Bei ihr lachen die wohl dreihundert Gäste immer wieder. Sie
verstehe nicht, sagt Inge Deutschkron, dass die Retter in Deutschland bisher so
wenig öffentliche Anerkennung gefunden hätten. "Der Staat Israel ehrt diese
Menschen", empört sie sich. Spontan dankt sie dem Bundespräsidenten, "dass er
endlich diese Angelegenheit aufgegriffen hat".
Die Hamburgerin Ruth Held gehört zu den Rettern. Als Schülerin organisierte sie
eine illegale Lebensmittelhilfe für Verfolgte. Als sie mit ihrer Hilfe für Juden
in einer Fabrik aufflog, wurde sie zusammengeschlagen, entging nur knapp der
eigenen Deportation. Heinz Droßel, ein Offizier im Zweiten Weltkrieg, half in
den letzten Kriegsmonaten vier Juden. Sie überlebten in der Wohnung seiner
Eltern in Tempelhof und in anderen Verstecken. Ruth Held und Heinz Droßel reden
sichtlich ungern über ihr damaliges Tun - bescheiden wirken sie, die Rettungstat
fast selbstverständlich.
Benjamin Herzberg hat 1997 als 14-Jähriger die Geschichte Ruth Helds
recherchiert - und was er sagt, findet an diesem Abend den meisten Beifall.
Gemeinsam sei allen Retterinnen und Rettern gewesen, dass ihr Handeln auf einem
starken "Wertefundament" gefußt habe. Sie hätten den Nächsten nicht als Fremden
gesehen, nicht als "Fremdkörper". Und das sei eine Einstellung, von der man noch
heute, etwa bei der Bioethik-Debatte, lernen könne. Herzberg hat mit seiner
Recherche einen Jugend-Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten gewonnen. Die
Jugendlichen erforschten die Geschichten der so genannten stillen Helden.
Zum Ausklang des Abends spielen Barbara Polásek an der Gitarre und Christoph
Probst am Violoncello ein Stück Alexander Arutjunians. Rau ergreift das Wort und
berichtet, dass Probst ein Enkel des gleichnamigen Widerstandskämpfers der
"Weißen Rose" ist. Er wurde von den Nazis hingerichtet. Ein Hauch von
Familienfeier weht beim anschließenden Empfang durch die Säle von Bellevue. Es
war ein magischer Abend."
taz Berlin vom 15.3.2003, Seite 35
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