Kein "Clash of
Civilizations":
Fasten und Eis
gebrochen
In Kreuzberg treffen sich
türkische und jüdische Senioren zum gemeinsamen "Fastenbrechen" nach
muslimischem Recht. Das erste Treffen dieser Art fand vor einem Jahr
statt: am 12. September 2001
Von Philipp Gessler
So ist das mit dem clash of civilizations:
Nikolai Trakhtman steht auf, schaut mit leichtem Schielen in die Runde und
erzählt eine Geschichte vom Propheten Mohammed: Kurz bevor er auf dem
Tempelberg in Jerusalem sein geflügeltes Pferd El-Barak bestieg und in
den Himmel flog, saß er noch mit drei anderen Propheten zusammen - und
was haben sie gemacht? Sie haben miteinander gegessen! So sei es recht
getan, sagt der 67-jährige und setzt sich. Der gleichaltrige Sehmus
Kargi klatscht begeistert und lacht Trakhtman an. Das Essen kann
beginnen.
Es ist nicht schwierig, sich beim gemeinsamen Schmausen
zu verstehen - die Geschmacksnerven auf der Zunge scheinen weniger
eingefahren als die Synapsen im Gehirn. Da finden der frühere Elektriker
türkischer Herkunft und der pensionierte Bauingenieur rumänischer
Abstammung trotz gemeinsamen Kampfes mit dem Deutschen leicht zusammen.
Was die leichte Verständigung der beiden heutzutage jedoch umso
erstaunlicher macht, ist etwas anderes: Trakhtman ist Jude, Kargi
Muslim. Und gemeinsam feiern sie das islamische "Fastenbrechen".
Seit gut einem Jahr treffen sich auf Einladung des
Jüdischen
Kulturvereins und der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Kreuzberg
türkische und jüdische Senioren aus der Hauptstadt alle paar Monate, um
einander besser kennen zu lernen - und dass das überhaupt zustande kam,
ist fast so etwas wie ein Wunder. Denn ausgerechnet das erste Treffen
war nach monatelanger Vorplanung wegen Terminschwierigkeiten schließlich
für den 12. September 2001 festgesetzt worden: ein Tag, nachdem mit den
Selbstmordattentaten von New York und Washington nach Ansicht vieler der
"Zusammenprall der Kulturen" und der Kampf der Religionen im Sinne
Samuel P. Huntingtons begonnen hat. Die jüdischen Weltverschwörer und
die muslimischen Antisemiten an einem Tisch. Konnte, kann das gut gehen?
Es ging gut, wie Ralf Bachmann, Vorstandsmitglied beim
Jüdischen
Kulturverein berichtet: Man habe das Treffen am 12. September 2001
("gerade an diesem Tag!") nicht verschoben - und alle, die damals dabei
gewesen seien, hätten dieses Zusammensein nicht vergessen: "Wir fühlten
uns irgendwie innerlich verbunden - im Protest." Am Treffen
festzuhalten, sagt Filiz Müller-Lenhartz, sei "richtig gewesen". Die
Sozialarbeiterin organisiert das heutige Treffen im
AWO-Begegnungszentrum und schwirrt durch den Raum, um mit allen neuen
Bekannten mal kurz zu sprechen. Mit Sonnenuntergang, heute um 16.02 Uhr,
darf nach muslimischem Recht (Sure 2, Verse 183-5) im Fastenmonat
Ramadân wieder gegessen und getrunken, das Fasten gebrochen werden. Die
rund 30 Senioren erfreuen sich an Linsensuppe
(mercimek corbasi), Hackbraten mit gegrillter Peperoni (biber
kizartma) und Pistazien-Teigtäschchen
(baklava).
Die Stimmung steigt, der Sprachenwirrwarr nach dem
Scheitern des Turmbaus zu Babel ist kein Hindernis mehr. Es folgen
Willkommensgrüße auf Deutsch, auf Türkisch, Rumänisch, Russisch,
Englisch, ja sogar auf Aserbaidschanisch und Japanisch (samt Verneigung
und verlegenem Lachen) - was war noch mal das Problem einer
multikulturellen Gesellschaft? Am Ende des Essens spricht Gulsen Zeybel
(54) ein Dankgebet an Allah. Es sei nichts Besonderes, sagt sie, sich
mit Juden zu treffen, es seien doch "normale Menschen". Ihr gefalle es,
bei ihren Treffen in die Gesichter zu schauen, "glückliche und
freundliche". Trakhtmann sagt: "Wenn man in dem anderen den Menschen
sehen will, sieht man in ihm einen Menschen." Der clash of
civilizations findet nicht statt.
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04-12-02
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