Halacha und Alter
von Rabbiner Tsevi Weinman (Jerusalem)
Im jüdischen Recht wird der Begriff „Alter"
in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich angewandt. Er kann sich
auf das chronologische Alter beziehen oder durch den körperlichen
Zustand eines Menschen definiert sein. Man sagt: Ein Sechzigjähriger ist
reif an Jahren, ein Siebzigjähriger an Greisenalter" (Sprüche der
Väter). Im Buch der Chronik steht: „Und David starb im vollen
Greisenalter", als Siebzigjähriger. Im Segensspruch für die Gerechten,
dem 13. Segensspruch der Amidah, des stillen Gebetes, beten wir jeden
Tag für das Wohlergehen der Altesten: „... und über die Ältesten deines
Volkes, des Hauses Israels ... sei dein Erbarmen rege".
Traditionell haben alte Menschen ihren Platz im Rahmen der Familie. Im
Unterschied zu Armen, Waisen oder Witwen werden sie weder in der Tora
noch von den Weisen als schwächere Mitglieder der Gesellschaft
eingestuft, die wegen Hilfsbedürftigkeit bei Wohltätigkeit und sozialer
Fürsorge besonders berücksichtigt werden müssen. Neben zahlreichen
wohltätigen Stiftungen und Organisationen zur Armenhilfe, Krankenpflege
oder Bestattung der Toten gab es lange keine der Altenpflege. Das erste
jüdische Altenheim wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in
Krakau und 1749 in der portugiesischen Gemeinde Amsterdam gegründet. Mit
dem 19. Jahrhundert wuchs ihre Zahl, jetzt findet man in jeder jüdischen
Gemeinde neben zahlreichen anderen wohltätigen Organisationen auch das
Altenheim.
Für unsere Weisen lag die obere Grenze eines Menschenlebens bei 100
Jahren, doch die durchschnittliche Lebenszeit beträgt 70 bis 80 Jahre
(Psalmen Kapitel 90 V. 10). Die Tora verspricht dem, der die Gebote
hütet, ein langes Leben (Deut., Kap.6, V. 2) und im Talmud gibt es
Beispiele ethischen Verhaltens, die unseren Weisen langes Leben
beschied. „Ich bin freigiebig mit meinem Gelde umgegangen", „Ich habe
keine Geschenke angenommen.", Ich habe in meinem Hause nie gezürnt." Die
Weisen nannten besondere Gebote, darunter das der Wohltätigkeit, die
langes Leben sichern.
Im Allgemeinen bringen wir dem Gealterten tiefen Respekt entgegen.
Gesammelte Lebensweisheit, Erfahrung des Nachlassens der körperlichen
Triebe sowie zusätzliche Zeit für das Studium der Tora und die Ausübung
ihrer Gebote machen das Alter zu etwas Positivem, ohne da? wir die
körperlichen Schwächen und andere Einschränkungen leugnen. Ein langes
Leben wird grundsätzlich als Segen verstanden (Jesaja Kap. 65, V. 20).
Es heißt: „Wer von den Ältesten lernt, ist so, als genieße er reife
Trauben und alten Wein." Man sollte das Alter folglich mit der Hoffnung
erwarten, gute Dinge zu vollbringen, wie Wohltätigkeit, sich nicht mit
Bedeutungslosem abgeben und sich lebenslang von unziemlichen Handlungen
fernhalten. Die schriftliche Lehre und unsere Weisen raten, daß der
Mensch sich in jungen Jahren körperlich und geistig auf das Alter
vorbereiten soll. Es heißt, Toragelehrte erlangen im Alter zusätzliche
Weisheit, innere Ruhe und Klarheit, wohingegen jene, die sich nicht mit
dem Studium der Tora befassen, im Alter ihre Einfältigkeit steigern und
weder innere Ruhe noch Klarheit erlangen. Es ist geschrieben, daß ein
alter Mensch die ihm vertraute Umgebung jeder Alternative vorziehen
wird, selbst wenn diese vorteilhafter zu sein scheint,
umgangssprachlich: „Einen alten Schrank verrückt man nicht".
Die Halacha ist ein Regelwerk auch für den Alltag. Es gilt, daß eine
ältere Frau sich in der Kleidung von einer jungen unterscheiden, der
ältere Mensch Kranke besuchen soll, gerade auch junge Kranke, selbst
wenn dies nicht seiner Würde entsprechen mag, und er ist verpflichtet,
sich an der Beerdigung der Toten zu beteiligen, selbst wenn dies nicht
seinem Stande angemessen ist. Wer im Alter verwitwet, soll sich erneut
verheiraten, denn ein Mann soll nicht ohne Frau, eine Frau nicht ohne
Mann leben, doch sollten beide annähernd gleichen Alters sein. Alte
Männer sind sogar verpflichtet, sich am Bau eines rituellen Tauchbades
in ihrer Stadt zu beteiligen, selbst wenn ihre Frauen es nicht mehr
benötigen. Alte und schwache Menschen müssen selbst am Jom Kippurim, dem
Veröshnungstag, nicht fasten. Beginnt ein alter Mensch mit der Gemeinde
zu fasten und fühlt er sich dabei zunehmend schwächer, geben wir ihm
sofort zu essen. Im Krankheitsfall ist der alte Kranke wie ein junger zu
eilen, keiner wird bevorzugt.
Ein alter Mensch, dem die Hände zittern, ist nicht für das rituele
Schlachten von Tieren geeignet, und jemandem über 80 ist das Schlachten
überhaupt nicht mehr gestattet. Gleiches gilt für die rituelle
Beschneidung eines Neugeborenen. Ähnliches gilt für die Richter, aber
nur wenn über Menschenleben zu entscheiden ist. In diesem Fall darf der
alte Mensch nicht mehr im Sanhedrin (im jüdischen Gericht) dienen. Würde
sich aber sonst niemand finden, der mit dem Gesetz und seiner
Interpretation vertraut ist, würde man ihm dennoch den Vorzug geben.
Da alte Menschen kein Geld mehr verdienen, ist es in jüdischen Gemeinden
Brauch, sie von dr Zahlung sämtlicher Steuern zu befreien, nicht aber
vom Gebot der Wohltätigkeit. In der Synagoge sitzen die Ältesten vorn,
der Gemeinde zugewandt, den Rücken zur heiligen Lade gekehrt, während
die Gemeinde Reihe für Reihe sitzt, den Ältesten und der Lade zugewandt.
Bei der öffentlichen Toravorlesung wird stets der ältere Mensch vor dem
jüngeren Toragelehrten aufgerufen. Und so ist es auch ein Gebot und ein
Akt der Liebe, sich um die alten Eltern zu kümmern, sie bei sich wohnen
zu lassen und zu versorgen. Ist aber ein Ehepartner gegen den Einzug der
Eltern des Ehepartners, akann es nicht gegen dessen Willen erfolgen. Hat
ein Ehepartner dem Einzug zugestimmt und erst während des gemeinsamen
Wohnens bemerkt, dass er mit der entstandenen Situation nicht umzugehen
weiß, kann er sich immer noch umentscheiden. Eltern, die bei ihren
Kindern leben und über Geld verfügen, müssen diesen Miete zahlen. Muß
der Vater im Alter bei seinen Kindern wohnen, ist es besser, wenn es bei
der Tochter ist, denn kommt es zu Streitigkeiten, läßt sich ein
Schwiegersohn eher beschwichtigen als eine Schwiegertochter. Immer gilt
„vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen und das Ansehen eines
Greisen ehren" (Lev. Kap 19 V 32).
Manche halachische Autoritäten meinen, daß auch ein nichtjüdischer Greis
gemeint ist. Und so ehre man auch einen ergrauten Nichtjuden. Wenn man
sich vor einem alten Menschen erhebt, sollte man ganz aufstehen und
stehen bleiben, solange dieser steht. Man ist auch verpflichtet, einem
alten Menschen seinen Sitz in öffentlichen Verkehrsmitteln anzubieten.
Handwerker sind übrigens während ihrer Arbeit von diesem Gebot
freigestellt. Alter heißt hier 70 Jahre, andere meinen, es beginnt mit
60.
Solange ein Mensch in Führungsposition seinen Aufgaben gerecht wird und
vorher nichts anderes festgelegt wurde, solle man ihn nicht aufgrund
seines Alters aus der Stellung drängen. Dies gilt für Rabbiner,
Vorsänger, Synagogenvorsteher und Schuldiener. Ist es aber Brauch, die
Stellung nach festgelegter Amtszeit oder mit Erreichen eines bestimmten
Alters aufzugeben, sollte der Betreffende dies tun. Wurde die Begrenzung
weder in Absprache, noch durch den Brauch des Ortes festgelegt und der
Betreffende ist voll arbeitsfähig und hat sich nichts zu Schulden kommen
lassen, sollte man ihn nicht aufgrund seines alters und gegen seinen
willen entlassen. Beschäftigt die Gemeinde jemanden in einem
öffentlichen Amt, ohne vorher seine Amtszeit begrenzt zu haben, und kann
er mit fortschreitendem Alter immer weniger leisten, weswegen er
gezwungen sein kann, sein Amt niederzulegen, dann ist die Gemeinde
verpflichtet, ihn weiterhin zu ernähren und ihm seinen vollen Lohn zu
zahlen. Für jüdische Soldaten ist die Altersbegrenzung 60 Jahre. Das
sind Beispiele aus dem jüdischen Recht, der Tora, der jüdischen Ethik
und den Überlieferungen unserer Weisen, die den Umgang der Gemeinschaft
mit den Ältesten regeln, aber natürlich hängt alles vom Menschen ab. Er
entscheidet über sein Tun und Handeln bis ins hohe Alter.
"Vom Altern in der Fremde - über Chancen und Hindernisse der
Integration hochqualifizierter älterer und alter russischsprachiger
„Kontingent-Flüchtlinge" im heutigen Deutschland"
hieß das Kolloquium, auf dem dieser Vortag gehalten wurde. Es
fand am 24 / 25. März 2001 statt und wurde vom Jüdischen Kulturverein
Berlin organisiert.
Startseite: jüdisches Leben in
Berlin
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