Die Frau an der Thora:
Ora GuttmannOra Guttmann
hat über 30 Jahre lang in Berlin jüdischen
Religionsunterricht erteilt
Von Volker Resing
Sie war sehr aufgeregt, obwohl sie doch schon so viel
erlebt hatte. Mit 70 Jahren wurde Ora Guttmann das erste Mal an das
große Pult in der Mitte der Synagoge gerufen, um aus der Thora zu lesen.
In der
Neuen
Synagoge in der Oranienburger Straße. Noch immer treibt ihr das
Erlebnis die Tränen in die Augen, wenn sie davon erzählt. Das Lesen aus
der Thora war früher in der Synagoge das Privileg der Männer. Jetzt aber
ist sie dran. Der Name ihres Vaters wird genannt. So sieht es der Brauch
vor. "Ora Bat Sinai" – ihr Geburtsname. Die Tochter des polnischen Juden
stellt sich vor die große Thorarolle. Sie fühlt sich geehrt.
1931 wandert ihr Vater nach Palästina aus. Die Tochter
wird in Haifa geboren, wächst in einem Kibbuz auf. Ihre Eltern sind
nicht sehr religiös, sie hat mehr der zionistische Gedanke in das
Gelobte Land ziehen lassen als die Religion. Aber die Tochter findet
schon früh Gefallen an dem alten Glauben und beginnt sich zu
interessieren. Sie erinnert sich daran, dass im Palästina ihrer Jugend
der Alltag noch stark von den religiösen Traditionen geprägt war. Am
Schabbat herrschte wirklich Ruhe. Heute fahren in Israel am heiligen Tag
viele Autos herum und das öffentliche Leben hat zwar einen Gang herunter
geschaltet, steht aber nicht mehr still.
Mit ihrem Mann zieht sie 1957 nach Berlin. In Israel
wurde sie dafür schief angeschaut. Fünf Jahre nach der Gründung des
Staates Israel stößt dieser Schritt bei vielen auf Unverständnis. Doch
ihr Mann will zurück in seine Geburtsstadt. Er war als Kind vor den
Nazis geflohen. Auch sie war neugierig auf Europa. Ihr Interesse an der
jüdischen Religion hat sie zum Beruf gemacht – ausgerechnet in
Deutschland. Ora Guttmann wurde die erste jüdische Religionslehrerin in
Berlin nach der Schoah. Viele Jungen und Mädchen sind durch ihre Schule
gegangen. Heute kommen ihre erwachsenen Schülerinnen und Schüler von
einst und bringen wiederum ihre Kinder, damit auch sie bei Ora Guttmann
die Grundlagen des Judentums lernen sollen. 33 Jahre war sie Lehrerin,
eigentlich ist sie jetzt im Ruhestand. Aber hin und wieder gibt sie noch
Stunden.
Der Bar-Mizwa-Unterricht bereitet die Jungen darauf vor,
in die Gemeinde aufgenommen zu werden. Nach dem Studium der religiösen
Bräuche und der Schrift werden die 13-Jährigen in der Synagoge nach
vorne gerufen. Sie dürfen dann das erste Mal in Hebräisch aus der Thora
lesen. Mädchen wurde das früher verwehrt. Ora Guttmann streitet im
Berlin der 60er und 70er Jahre dafür, auch den jungen Frauen die Bat
Mizwa zu gestatten. Sie führt den religiösen Unterricht für Mädchen ein.
Seitdem feiern Jahr für Jahr Mädchen in Berlin ihre Bat Mizwa. Ihre
Aufnahme in die Gemeinde.
Nur Ora Guttmann hat selbst nie ihre Bat-Mizwa gefeiert.
Sie war im Vorstand der
Synagoge Pestalozzistraße, hat an dem neuen Gebetbuch mitgearbeitet,
aber die feierliche Bat Mizwa gab es nicht. Als es schließlich auch ihr
erlaubt werden sollte, wollte sie nicht mehr. In dem neuen Synagogenraum
an der
Oranienburger Straße feiern liberale Juden ihren Gottesdienst. Frauen
und Männer sitzen dort zusammen in den Bankreihen. Viele junge Jüdinnen
kommen dorthin und begrüßen Ora Guttmann persönlich. Für die Jüngeren
ist es nichts Besonderes mehr, vorne auf der Bima zu stehen. Das ist
selbstverständlich, auch dass eine Kantorin die alten Lieder singt. Eine
der Frauen in der Gottesdienstgemeinde arbeitet sogar darauf hin,
Rabbinerin zu werden. „So muss es sein", sagt Ora Guttmann, die
Vorkämpferin für Gleichberechtigung in der Gemeinde. Sie ist ein weinig
stolz. Aber für sie selbst ganz persönlich ist das alles noch nicht so
normal. Sie kommt noch aus einer anderen Welt. Und wenn sie zur Thora
aufgerufen wird, ist immer wieder ein ganz besonderer Moment.
Erstveröffentlichung in:
Zeitung der Katholischen Akademie in Berlin, Dez. 2002 - Febr. 2003
Jüdische Frauen-Aktivitäten in
Berlin
hagalil.com
04-12-02
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