Frauenprotest in der Rosenstraße:
Ruth Gross-Pisarek erinnert sich
"Obwohl die Ereignisse dieses Ortes,
deretwegen wir heute hier sind, 56 Jahre zurückliegen, kann ich nicht ohne
Beklommenheit hier stehen. Manche Gefühle und Erlebnisse verblassen nicht.
An jenem Sonnabend, dem 27. Februar 1943,
kam auch unser Vater, Abraham Pisarek, nicht von der Fabrik in der
Frankfurter Allee, in der er als Heizer Zwangsarbeit leistete, nach Hause.
Von dem Vater meiner Freundin Erika Hecht, der als Kriegsversehrter des 1.
Weltkriegs noch nicht deportiert worden war, erfuhren wir, daß die Männer
aus den Mischehen möglicherweise im Haus der jüdischen Gemeinde, Rosenstraße
2-4, eingesperrt wären.
Tatsächlich war mein Vater am frühen Morgen
auf einem offenen Lastwagen mit allen anderen jüdischen Zwangsarbeitern der
Fabrik zunächst ins »Clou« und dann hierher gebracht worden. Hier, vor dem
Haus Rosenstraße Ecke Heidereutergasse trafen wir am Abend desselben Tages
die ersten Schicksalsgenossen, wir, das waren unsere Mutter Berta Pisarek,
mein damals 13jährlger Bruder Georg und ich, ein 11jähriges Kind.
Vor der Tür stand ein Mann in Zivil,
offenbar ein jüdischer Ordner, der uns den Eintritt verwehrte, dem wir aber
später am Abend ein Stullenpäckchen mit dem Namen aufdrängen konnten.
Die Litfaßsäule, die damals hier stand,
wurde für 1 Woche mein strategisch wertvoller Stammplatz. Schon am Sonntag
hatte ich hinter der Fensterscheibe im 3. Stock meinen Vater entdeckt, er
winkte hinter der Scheibe vorsichtig mit der Hand, in der er ein kleines
weißes Zettelchen hielt, d. h. er hatte unser Stullenpäckchen erhalten, in
das wir ein Liebesbriefchen hereingelegt hatten. Natürlich war dieser Platz
am Fenster begehrt, die Männer, die eingezwängt in den Zimmern standen,
hofften ja alle, ihre Frauen draußen zu entdecken. Ich stand schon deshalb
oft und lange da unten, um ihm jeden Tag wenigstens einmal zuwinken zu
können.
Historische Litfaßsäule
Foto: M. Eun |
Litfaßsäule mit historischen
Fotos und Dokumenten der
Fabrikaktion
Foto: G. Bramburger |
Die Litfaßsäule war zudem ein besonders
günstiger Platz für mich, weil ich bei den Versuchen der Polizei, die Frauen
zu vertreiben, nur langsam um die Litfaßsäule herumzugehen brauchte, um
nicht beachtet zu werden. Die Polizei kam nie mit einem großen Aufgebot. Die
Frauen wichen widerstrebend in die umliegenden Straßen aus, um nach kurzer
Zeit wieder zu erscheinen und ihren Posten einzunehmen.
Wann immer wir kamen, trafen wir auf
Frauen, die einzeln oder in kleineren oder größeren Gruppen in einigem
Abstand vor dem Haus standen oder auf und abgingen, Tag und Nacht.
In der Nacht vom 1. auf den 2. März gab es
einen Luftangriff, bei dem große Teile der Innenstadt getroffen wurden. Als
wir durch die Oranienburger Straße, in der wir wohnten, unter dem Bahnhof
Börse hindurch hierher liefen, war der nächtliche Himmel über uns und um uns
herum von vielen Feuern erleuchtet. Die Stadt brannte, doch das
Gefängnis-Gebäude fanden wir dunkel und still, unversehrt.
Die Frauen, die wie wir nach der Entwarnung
hierher geeilt waren, flüsterten untereinander von Sodom und Gomorra und
einem Gottesgericht. Wir da auf der nächtlichen Straße, die wir wußten, daß
in dem scheinbar friedlichen Haus in jedem Stockwerk Hunderte von
schlaflosen Menschen saßen und standen, gequält von Hunger und Enge, waren
wie sie umklammert von der tödlichen Angst vor dem nächsten Tag.
Am frühen Morgen des 6. März, wieder ein
Sonnabend, kam unser Vater tatsächlich nach Hause, mit einem
Entlassungszettelchen, völlig erschöpft, hungrig, müde, stoppelbärtig. Um 14
Uhr Vorstellung bei der örtlichen Pollzel, am Sonntag Abordnung zu einem
sog. Himmelfahrtskommando, d. h. Möbelräumung aus Häusern, in denen
Blindgänger lagen. Am Dienstag wieder Polizei. (Er mußte sich von Sept. 39
an jedem Dienstag auf unserem Polizelrevier melden. Die Liste habe ich noch.
Dienstag der 2. März 43 fehlt, dafür ist Sonnabend, der 6. März und Dienstag
der 9. März eingetragen. Die letzte Meldung erfolgte am Dienstag, dem 17.
April 45. Dann zurück zur Zwangsarbeit in die Fabrik, noch einmal Vorladung
zur Gestapo in der Burgstraße - möglicherweise nach einer Denunziation durch
eine Hausbewohnerin - weiter Zwangsarbeit, aber in Berlin, keine
Deportation.
Meine Eltern heirateten 1928. Meine Mutter
liebte natürlich meinen Vater, sie liebte auch die biblische Gestalt der
Ruth und die Worte, die sie zu ihrer Schwiegermutter Naomi sagte. Wo du
hingehst, will ich hingehen... Deshalb nannte sie mich Ruth und deshalb hat
sie mir oft in meiner Kindheit diese biblische Geschichte erzählt. Aber 1928
konnte sie, bei allem politischen Gespür, das ihr eigen war, nicht ahnen,
was dieses Versprechen, das sie zu ihrem eigenen gemacht hatte, ihr
abverlangen würde.
Die Woche vom 27. Februar bis zum 6. März
1943 war für meine Mutter und alle diese Frauen und Männer aus den sog.
Mischehen, die sich hier unverabredet zusammenfanden, fraglos ein
außerordentliches Ereignis, schon weil sie hier zum ersten und einzigen Mal
in großer Zahl gemeinsam und öffentlich auftraten, es war dennoch nur 1
Woche in 12 Jahren, in denen sie jeden Tag von Anbeginn tapfer und standhaft
sein mußten, jeden Tag und jede Nacht.
Sie mußten, um ihre Familien zu retten, das
zum Gesetz erhobene Unrecht unterlaufen. Dazu brauchten sie nicht nur Mut,
sondern die Courage auch zu Verstellung, Lüge und Betrug, Kaltschnäuzigkeit,
Tricks und Winkelzügen, Camouflage.
Sie wurden öffentlich und privat diffamiert
als "Judenhuren", "Rasseschänder" und "Volksverräter", und sie wurden
bedrängt, sich scheiden zu lassen. Dabei versuchte die Gestapo mit der ihr
eigenen Infamie, den Frauen weiszumachen, mit einer Scheidung würden sie
nicht nur sich, sondern vor allem ihre Kinder retten und ihnen ein normales
unangefochtenes Leben sichern. Sie hätten entfliehen können. Eine Tür stand
offen, aber nur sehr wenige sind durch sie hindurchgegangen.
Vielmehr versuchten sie ihre Männer und
Kinder zu schützen und sie vor dem Schlimmsten, der Deportation zu bewahren,
indem sie sich vor und neben sie stellten, in dieser Woche der unermüdlichen
Patrouillen um das zum Gefängnis gewordene Haus herum, im wörtlichen Sinn
einen Schutzwall um sie herum bildeten, und indem sie lautstark auf ihren
Status als sog. Arierinnen, als deutsche Volksgenossen, als Ehefrauen
pochten. Sie wußten wie alles entscheidend ihre Präsenz war, ihr kluges und
selbstsicheres Auftreten.
Ich erinnere mich an einen Abend zu Hause,
nach einem dieser schrecklichen Luftangriffe, als meine Mutter plötzlich
anfing zu schreien, keine Worte, sie schrie einfach, laut, unartikuliert wie
ein gequältes Tier. Sie schien völlig am Ende, weil die Tage und Nächte der
Angst und Verzweiflung kein Ende zu nehmen schienen. Aber sie hat sich
wieder gefaßt und sie hat durchgehalten bis zum Ende, das dann doch kam: bis
zur Befreiung durch die Rote Armee im Mai 1945.
Die Frauen und Männer, die hier in diesen
Tagen zu jener Zeit demonstrierten und protestierten, haben einige tausend
Jüdischer Männer und Kinder davor bewahrt, deportiert und ermordet zu
werden.
Sie haben uns etwas Kostbares hinterlassen,
nämlich den Beweis dafür, daß Mut und Treue lebbar sind, Treue nicht nur zu
geliebten Menschen, sondern auch zum eigenen Wort, zu Anstand und Würde:
Sie haben die Worte, die die Moabiterin
Ruth einst gesagt haben soll, in gelebtes Leben verwandelt:
Rede mir nicht ein, daß ich dich
verlassen und von dir umkehren soll, denn wo du hingehst, will ich
hingehen. Wo du weilst, will ich weilen. Dein Volk ist mein Volk und
Dein Gott mein Gott. Wo Du stirbst, will auch ich sterben und da will
ich begraben sein. Allein der Tod wird mich und Dich scheiden."
Ausschnitt aus der Rede von Dr. Ruth
Gross-Pisarek auf der Veranstaltung der "Topographie des Terrors" zur
Einweihung der Litfaßsäulen in der Rosenstraße und an der
Karl-Liebknecht-Straße am 4. März 1999
Wir danken dem Hentrich-Verlag für die
Genehmigung diesen Textauszug zu verwenden, aus:
Jochheim, Gernot (2002) Frauenprotest in der Rosenstrasse Berlin 1943.
Berichte - Dokumente - Hintergründe. Teetz: Hentrich & Hentrich. S. 102-105.
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Denkmal von Ingeborg Hunzinger
Historische Hintergründe
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09-09-03
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